Über die Wiederentdeckung der Albleisa

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Über die Wiederentdeckung der Albleisa

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Der Dreiklang „Linsen mit Spätzle und Saitenwürstle“ gehört im Land der Schwaben zum Pflichtprogramm vieler Kantinen und Restaurants. Meist jedoch kommen die Linsen nicht mehr von der Schwäbischen Alb, sondern aus dem Mittelmeerraum, etwa der Türkei, oder aus Kanada. Einige Linsen sind belastet mit dem Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat oder dem in Deutschland verbotenen Glufosinat, das im Verdacht steht, die menschliche Fruchtbarkeit zu gefährden. Die Redaktion des Ökotest-Magazin hatte Anfang des Jahres die in Supermärkten angebotenen roten Linsen untersucht – Rote Linsen sind geschälte braune Linsen. „Überraschung war das nicht“, schreibt das Magazin. „Der Anbau von Linsen ist aufwendig und hat seine Tücken, kann durch den Einsatz von Herbiziden aber erheblich vereinfacht werden.“

„Linsen haben mir einfach schon immer geschmeckt. Und ich habe mich gefragt, warum die von so weit herkommen müssen. Mich hat es dann so gereizt, etwas anzubauen, was früher hier auf der Alb ganz selbstverständlich angebaut wurde.“ Als der Diplombiologie und spätere Vollerwerbslandwirt Woldemar Mammel, der heute 78 Jahre alt ist, Anfang der 1980er Jahre den Versuch startet, am Rand seines Heimatdorfs Lauterach im beschaulichen Lautertal auf der Schwäbischen Alb, wieder Linsen anzubauen, da gelten „Späths Alblinsen I und II“ - genannt: die Kleine und die Große -  als verschollen. Sorten, die früher auf der Alb daheim waren. Also baut Mammel eben die französische Puy-Linse an. Sie ist grün-bläulich-marmoriert. Doch… Späths Linse lässt ihm keine Ruhe.

In den 1930er Jahren hatte der aus Haigerloch im Zollern-Alb-Kreis stammende Pflanzenzüchter Fritz Späth aus Landsorten der Schwäbischen Alb die beiden Sorten gezüchtet: Linsen, die besonders klein sind und deshalb einen höheren Schalenanteil haben. Weil der Geschmack in der Schale sitzt, schmecken seine Linsen nussig.

Bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts war die Schwäbische Alb eines der deutschen Hauptanbaugebiete für Linsen. Die relativ karge Alb, durch die das Wasser nur so ins Grundwasser durchrinnt, weil das bisschen Boden, das auf ihr liegt, nur wenig speichern kann. Für die meisten Pflanzen ist das nicht gerade ihr „place to be“. Die Linse aber, die ist, was das angeht, total anspruchslos. Sie mag gar keine schweren Böden, ist mit „armen“ zufrieden und den Spätfrost der rauen Alb, den verträgt sie auch. Düngung mit Stickstoff? Braucht sie nicht. Im Gegenteil: Wie andere Leguminosen – also Hülsenfrüchte wie Klee und Lupinen – ist sie Selbstversorgerin. Ihre Wurzelknöllchen binden den Luftsticksstoff im Boden. Sie düngt sich also selbst. 

Die Aussicht auf 80 Kilogramm natürliches Nitrat (Stickstoff) pro Hektar gefiel Biobauer Woldemar Mammel außerordentlich gut. Er wollte also die alten Linsen anbauen. Aber wie denn? Späths Alblinsen waren ja verschollen.

Nach dem 2. Weltkrieg Krieg wird Späths Linse noch fleißig angebaut; sie dient sogar mitunter als Zahlungsmittel – die Bauern tauschen sie auf dem Schwarzmarkt. 1963 nimmt die Saatgutdatenbank in St. Petersburg die Samen in ihre Sammlung auf. Doch seit den Wirtschaftswunderjahren landet immer mehr Fleisch auch auf den schwäbischen Tellern und verdrängt die Linsen als Hauptmahlzeit. Gleichzeitig erobern große Getreidemähdrescher die Felder; im Vergleich dazu ist die Linsenernte zu aufwendig und rentiert sich bald nicht mehr. Linsen müssen abreifen, das heißt: nach der Ernte noch drei Tage in der Sonne trocknen – wehe, wenn es dann regnet! Außerdem braucht die Pflanze Halt zum Wachsen, man muss Stützfrüchte zwischen säen, aber nach der Ernte wieder herausfiltern. 

1966 wird der erste und einzige Eintrag einer Linsensorte im deutschen Bundessortenregister gelöscht: Späths Alblinse I. Die Linsen verschwinden endgültig von den Feldern – nachdem sie jahrhundertelang zum Landschaftsbild gehört hatten. 

Schon um 500 vor Christus ernährten sich die Älbler von Linsen. Das weiß man, weil in einer Kelten-Siedlung im oberschwäbischen Riedlingen Tonscherben gefunden wurden. Mammel: „Nachdem der Töpfer die Gefäße gedreht hatte, stellte er sie auf den Boden und streute Linsen auf den Boden, damit sie nicht anklebten.“ Die Abdrücke sind noch zweieinhalb Jahrtausende später zu sehen. 

Mammel: „Intuitiv haben die Älbler früher schon alles richtig gemacht. Sie haben Superfood gegessen - das auch im internationalen Vergleich super da steht.“ Denn Linsen beinhalten viel Vitamin B, Magnesium, Eisen und Zink. Vor allem aber strotzen sie vor Ballaststoffen, was gut fürs Immunsystem ist, und Eiweiß - ein Viertel ihres Gewichts macht Eiweiß aus. „Hülsenfrüchte-Eiweiß in Kombination mit Getreide-Eiweiß sind von der Ernährung her optimal. Angeregt von einem Entwicklungshilfeprojekt in Tansania, bei dem man herausgefunden hat, dass die dortige Mahlzeit "Mais mit Bohnen" von der Eiweißversorgung her sehr gut ist, faszinierte mich, dass wir das hier früher mit unseren Linsen und Spätzle auch hatten. Und dass man nicht unbedingt ein Schnitzel braucht, um seinen Eiweißbedarf zu decken. Wir müssen runterkommen vom energieaufwendig erzeugten Tiereiweiß.“

Nicht nur auf der Alb wurden Linsen seit jeher angebaut, auch bei Würzburg und Bamberg, im Süden Thüringens, im Saarland und in der Eifel. Mittlerweile schon seit 36 Jahren bauen die Mammels wieder Linsen an. Von dieser Linsen-Renaissance begeistert, tun dies seit zehn Jahren auch etwa 120 Alb-Biobauern, die zur Öko-Erzeugergemeinschaft „Alb-Leisa“ gehören. Denn… die Geschichte um die Linse ging weiter.

Von der vergeblichen Suche nach Späths Alblinsen frustriert, erklärt Woldemar Mammel sie im Jahr 2001 für ausgestorben. Weder das Saatzuchtunternehmen Späth noch die deutsche Genbank in Gatersleben konnten bei der Suche weiterhelfen. Nur Späths Hellerlinse hat in Gatersleben überlebt. Fünf Jahre vergehen. Dann nimmt „Nutzpflanzendetektiv“ Klaus Lang, ein gelernter Ingenieur und Bekannter Mammels, dennoch die Suche wieder auf. Und siehe da: Er hat tatsächlich Erfolg. Er habe Späths Alblinse I und II gefunden - und auch schon erhalten. Mammel erinnert sich: „Mein erster Gedanke war: Das kann nicht sein! Bestimmt gibt’s auf dem Markt Scharlatane, die einem alle Sorten verkaufen, die man sucht.“ 

Doch Klaus Lang hat die Sorten in der St. Petersburger Genbank geortet. Dem drittgrößten Saatgutzentrum der Welt mit allein über 3000 unterschiedlichen Herkünften von Linsen. Alle fünf bis sechs Jahre werden sie ausgesät, damit sie keimfähig bleiben. Ein Jahr nach dem Fund erhält auch Mammel zwei kleine Tüten mit etwa 350 Linsensamen aus St. Petersburg – eine Menge, mit der man eine Fläche von gerade einmal fünf Quadratmetern bepflanzen kann. Wie vermehrt man Linsen schnell?

An der Uni Göttingen werden im Gewächshaus 40 Körner ausgesät, die von Januar bis Mai gedeihen sollen. Im Juni wird der Ertrag daraus gleich wieder ausgesät. Wissenschaftlich begleitet wird das Ganze auch von der Abteilung Pflanzenbau der Hochschule Nürtingen. Die Späth’sche Alblinse muss sich mit Sorten aus der ganzen Welt messen lassen. Und kann es: Bereits nach einem Jahr zeigt sich, dass sie in der Linsenliga ganz vorne mitspielen.

Auf der „Intensivstation“ – einem Gärtnerei-Gewächshaus in Obermarchtal, nahe bei Lauterach – wird nun jede Linse in einen Topf gepflanzt und automatisch bewässert. Im Glashaus gedeihen die Linsen hervorragend. Regen könnte Pilzkrankheiten begünstigen. Doch den gibt’s hier nicht. Auch keinen Hagel und gegen Blattläuse oder Milben werden biologische Mittel sowie Nützlinge eingesetzt. So explodiert der Blütenansatz fast. Ein Samenkorn bringt unter diesen Bedingungen rund 500 neue Samen hervor. Woldemar Mammel: „Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Auf freiem Feld ist eine 20- bis 40-fache Vermehrung üblich. Aber wenn man sie so verhätschelt…“ 

Schließlich, nach 50 Jahren Dornröschenschlaf, wird die Alblinse wieder auf dem Acker ausgesät. Zusammen mit Hafer, der den Pflanzen Halt geben soll. Schon drei Jahre später können auf fünf Hektar Linsen ausgesät werden; 2011 ist es genug für 34 Hektar. 

In jenem Jahr kann man die alte schwäbische Linse – als Kleine und als Große – endlich auch in kleinen Bio- und Dorfläden kaufen. Die Bauern der Erzeugergemeinschaft liefern die Hülsenfrüchte an den Verarbeitungsbetrieb Lauteracher Alb-Feld-Früchte, den Mammels Sohn leitet. Er trocknet sie, trennt Stützfrüchte, Unkraut und Halme davon, packt ab und vertreibt die Spezialität. Auch an eine ökologische Verpackung wird gedacht: Sie besteht aus Karton und einem durchsichtigen Kunststoff-Tütchen, das aus Holzfasern hergestellt ist: Cellophan.

Doch rentiert sich der Linsenanbau wirklich? Schließlich gab es ja Gründe, warum er auf der Alb eingeschlafen ist. Können Bauern davon leben? Mammel: „Der Linsenanbau ist mit Risiko verbunden. Denn er ist stark wetterabhängig und manchmal ist die Ernte sehr schlecht oder kann auch mal ganz ausfallen.“ Das muss der Verkaufspreis auffangen: Eine 500-Gramm-Packung kostet knapp sechs Euro. Doch immer mehr Kunden sind bereit, das zu bezahlen. „Die Alb-Leisa sind stark nachgefragt. Und in schwäbischen Kantinen sind Linsen nach wie vor ein Renner.“ So hört er die Alb-Leisa-Bauern am Ende nie klagen.

Isabella Hafner


lauteracher.de

Seit mehr als zehn Jahren versucht der Kulturpflanzen Alb e.V. alte Sorten auf die Felder zu bringen. Für alte Gemüsesorten ist ein „Gendatenbänkle“ entstanden:
www.genbaenkle.de

Die Albleisa gibt es in zahlreichen Ulmer Läden und auch Supermärkten zu kaufen:
lauteracher.de/haendler/89231/10km/