Wenn digitale Nachbarschaft Hände und Füße bekommt

Lesezeit
5 Minuten
Gelesen

Wenn digitale Nachbarschaft Hände und Füße bekommt

0 Kommentare

Es war einmal ein Lampen-Trio. Das sollte hoch hinauf an eine Neu-Ulmer Altbaudecke. Eigentlich… Mangels eigener Erfahrung in Elektroinstallationen und unüberbrückbarer körperlicher Distanz zur Decke - trotz Leiter -, führten die Lampen lange Zeit ein staubiges Dasein in einer Ecke. Mal wieder Freunde fragen? Ja, aber wie oft noch?

Dann änderte sich alles. Die zu Kurze registrierte sich auf dem Nachbarschaftsportal nebenan.de und bat um Hilfe. Zwei Stunden später hatte sie vier Mails im Postfach. Wow! Sie hatte keinen Lottogewinn angeboten - pure Arbeit: freiwillig. Nachbarschaftshilfe 2.0 begann ihr schon jetzt zuzusagen. Der Leiter-haft große, 33-jährige Philipp Kölle, der gerade Mal zwei Straßen weiter wohnte, bekam den Zuschlag. Zeitnah durfte er sich selbst verwirklichen. Gesehen hatte sie ihn all die Jahre nie - nicht Mal an der Supermarktkasse. Nach getaner Arbeit bekam Meister Lampe indisches Curry zu essen und die Kurze lange Geschichten zu hören; über Lebensträume, Reisen und gesunde Ernährung.

Ein Zettel hatte Philipp Kölle einige Zeit davor in seinem Briefkasten überrascht. „Hallo liebe Hausbewohner, ich würde mich freuen, mehr mit euch in Kontakt zu treten!…“ Eine Nachbarin wollte Menschen in der Straße miteinander vernetzen, eine Nachbarschaft gründen. Über nebenan.de. Mindestens hundert Bewohner - für die Macher der Plattform die sogenannte kritische Masse - mussten dafür zusammen kommen. Ab diesem Schwellenwert stifte das Portal Nutzen, heißt es vom Berliner Startup. Philipp Kölle sagt: „Ich war neugierig. Als Informatiker interessieren mich innovative, digitale Plattformen und   ich hatte Lust, neue Leute kennen zu lernen. Schon seit mehr als 30 Jahren lebe ich in Neu-Ulm, kenne aber wenige Nachbarn - außer die in meinem Haus.“

Da ist er nicht der einzige: Einer Studie der Uni Darmstadt und TAG Immobilien AG aus dem Jahr 2014 zufolge wünschen sich 35 Prozent der 1000 befragten Deutschen einen engeren Kontakt. Die Kultur des Miteinander-warm-Werdens ist in Deutschlands wenig ausgeprägt. Vielleicht auch, weil im Vergleich zu den USA etwa, die Menschen seltener umziehen. Oft dauert es frustrierend lange, bis sich Zugezogene zuhause fühlen. Vor allem junge Leute wären da theoretisch erprobter: Sie begegnen Menschen überall auf der Welt. Doch ihrem Nachbarn, dem begegnen auch sie selten. Jeder zweite Studienbefragte kennt ihn nicht. Auch im virtuellen Raum, im Internet, begegnen Menschen täglich Menschen. Aber wer trinkt in der Wohnung nebenan einen Kaffee? Die Plattform kann ein digitaler Türöffner sein: Kennenlernen online - Begegnung offline.

Auffällig ist, es gab immer wieder Zeiten, in denen Nachbarn enger miteinander waren oder anonymer leben wollten. Als viele noch auf dem Land wohnten, war man auf gegenseitige Hilfe bei Ernte, Lebensmittel-Tausch und Hausbau angewiesen. Dann zog die Industrialisierung Massen in die Städte, erstmals waren Wohnen und Arbeiten voneinander getrennt. Die Nachbarin traf man seltener. Während und nach den Weltkriegen war wieder Zusammenhalt gefragt, doch der wurde mit dem steigenden Wohlstand der 50er erneut verzichtbar. Das Motto: Meine vier Wände, mein Auto, mein Fernseher. Besitzen statt teilen und tauschen und aufeinander treffen.

Im Neu-Ulmer Zentrum sind viele Bewohner lieber altmodisch: Fast 250 registrierte Nebenan-Nutzer suchen jemand zum Ausgehen, knapp 200 Kochgesellschaft, mehr als 100 würden Einkäufe mit erledigen, fast 70 Babies sitten und 65 bei Computerproblemen helfen. Ilona schreibt: „Hallo Nachbarn, ich möchte einen Metalldetektor leihen, um meinen verlorenen Ehering zu suchen.“ Nini braucht einen Kastanienbohrer, Sarah eine Wasserwaage und Murat bietet allen Ernstes an, immer, wenn es schneit, 20 Meter Gehweg für Klaus zu räumen. Adela fragt nach Zeugen eines Unfallflüchtigen, der in das Auto ihres Freundes geradelt ist. Jürgen bietet Mathenachhilfe an und Ingeborg will für 100 Euro ihr Klavier loswerden. Auch nach Klempnern, Bandgitarristen und Gemeinschaftsgärtnern wird gefragt. „Hyperlokal“, nennt Christian Vollmann diesen Zoom auf kleinere Gebiete als den Postleitzahlenbereich. „In Berlin ist das der Kiez und mit dem wollen sich die Leute identifizieren.“ Der 41-Jährige hat die Plattform 2015 gegründet.

Heute sind schon mehr als eine Million Nachbarn in rund 7500 Nachbarschaften vernetzt. Die aktivste Nachbarschaft im Südwesten ist Stuttgart-Rosenberg mit 830 Nutzern. Und: Auch die Franzosen lernen mittlerweile ihre Nachbarn über Vollmanns Nebenan-Version „mesvoisins.fr“ kennen, die Spanier leihen sich Salz über „tienesal.es“ und die Italiener finden auf „vicinimiei.it“ zueinander. Länder, von denen es heißt, dort hätten die Menschen eigentlich weniger Kontaktschwierigkeiten. Vollmann freut der Erfolg. Er sieht ihn auch darin begründet, dass Kirche, Großfamilie und Vereine ihren Stellenwert verloren haben. Heute sei zwar vielen Menschen Gemeinschaft wichtig, „aber ohne Verpflichtungen. Sie wollen sich lieber spontan engagieren“. Immer wieder bekommt er auch Beweisfotos zugeschickt von Nachbarn, die in fröhlicher Runde Wein trinken.

Doch die Plattform soll nicht nur anderen Sinn stiften. Auch ihm. Sie ist Christian Vollmanns Neugeburt nach einer Krise. Mit Mitte dreißig hatte der Mann, der sich selbst als „freiheitsliebend“ und „mit wahnsinnig viel Eigenmotivation“ bezeichnet, unter anderem die Dating-Plattformen „iLove“ und „eDarling" sowie „myVideo“ gegründet. Er verkaufte sie und verdiente so viel Geld, dass er in mehr als 70 weitere Firmen investierte; Nun besaß er ein Haus in Berlin-Mitte, das er mit seiner Familie bewohnte, und hatte alles erreicht, worauf er seit seinem BWL-Studium an der Elite-Uni in Vallendar hingearbeitet hatte. Bloß die Ziele waren ihm ausgegangen. Bis er sich an die US-Nachbarschaftsplattform nextdoor.com erinnerte. Sie schien „Antworten zu geben auf drängende Herausforderungen der Gesellschaft: Altern, Anonymisierung, Landflucht, Vereinsamung, Filterblase und Populismus“, wie Vollmann aufzählt. Für ihn war klar: „Lokale Gemeinschaften müssen gestärkt werden.“ Und entwickelte ein Gegenmittel für Deutschland.

Doch ob man sich mit jemand von drei Häusern weiter gut versteht oder mit dem, dessen „Homezone“ nur ein paar Zentimeter Wand zum eigenen Himmelreich trennen - das ist ein großer Unterschied. Manch einer favorisiert „höfliche Distanz“, ein Gruß im Treppenhaus. Ende. Denn oft bekommt man mehr mit, als einem lieb ist: Der eine hört laut Verdi-Opern, der andere saugt am liebsten abends, oben plärren Kinder oder Hunde, die WG weitet das Treppenhaus zum zusätzlichen Zimmer aus, das Mädchen unten übt Geige und das Pärchen gegenüber verausgabt sich beim Sex - bloß nicht bei der Kehrwoche. Laut Sozialpsychologe Volker Linneweber sei deutlich wichtiger für den Alltag, wer über einem wohnt als die Frage, ob die Wohnung ein Gäste-WC hat. Deshalb: Erst der Nachbarcheck, bevor man wo einzieht oder sich sogar eine Immobilie zulegt.

Achtung insbesondere vor reichen Nachbarn. Eine dieses Jahr veröffentlichte US-Studie der Notenbank von Philadelphia verdeutlichte, dass sich Menschen dann eher verschuldeten. Weil sie auch ihr Haus umbauen und ein großes Auto her muss. Andererseits gingen Menschen in Vierteln seltener Pleite, in denen keine Bankfiliale in der Nähe war, bei der sie sich Kreditangebote holen konnten.

Stadtsoziologen und Psychologen treibt die Frage um, wie sich Nachbarschaften verändern, wenn jeder verbliebene Zentimeter Freiraum in Städten aber auch Dörfern nachverdichtet wird - wie politisch gewollt? Denn nicht nur Käfighühner können unter „Dichtestress“ leiden, was sich auf Immunsystem und Psyche auswirken kann. Zwar zeigen Versuche mit Affen, dass sie sich, eng zusammen gepfercht, intensiver lausen und freundschaftlich berühren. Aber bei den Menschen scheint sich das  heraus gewachsen zu haben.

Dass wir das Talent dazu haben können, zeigen Wohnformen in Megacitys, wie Hongkong, einer der am dichtesten besiedelten Städte der Welt. 6355 Menschen pro Quadratmeter leben hier, sieben Millionen teilen sich eine Fläche, die nur wenig größer ist als die Berlins. Die deutsche Hauptstadt zählt aber nur halb so viele Einwohner.

In Hongkong ziehen sozial Schwächere mit ihrer Familie schon Mal in ein acht Quadratmeter großes Zimmer und teilen sich Küche, Klo und Bad mit anderen Familien. Noch beengter geht es in den „Cage Rooms“ zu. Wer darin lebt, nennt nicht Mal zwei Quadratmeter sein Zuhause. Koje grenzt hier an Koje, manchmal hat sie einen Vorhang, manchmal ist sie absperrbar. Wer etwas mehr Geld hat, zieht neuerdings in ein Mikroappartement in einem Hochhaus. Die eigene Wohnung ist dann winzig, der Komplex bietet aber den Rest: Leseraum, Dachterrasse, Dachgarten, Fitnessraum und andere Gemeinschaftsräume.

Philipp, der Lampenmonteur, ist indes gespannt darauf, welche Nachbarn er noch kennen lernen wird in seinem Viertel. Auch aus praktischen Erwägungen: „Ich könnte jemand zum Gießen brauchen, wenn ich im Urlaub bin.“


Zur Nebenan-Plattform gehört eine Stiftung, die sich für die Stärkung nachbarschaftlichen Zusammenlebens einsetzt. Sie verleiht einen mit 50.000 Euro dotierten Preis für Engagement unter Nachbarn. Der Gründer des Netzwerks, Christian Vollmann, ist ehrenamtlicher Vorstand im Bundesverband Deutsche Startups sowie in Gremien zu Hightech und digitaler Wirtschaft, die das Bundeswirtschaftsministerium beraten. Nebenan.de soll ihm zufolge kostenlos bleiben und sich finanzieren, indem lokale Gewerbetreibende ihre Produkte und Dienstleistungen bewerben.


Laut einer Studie (2014) der TU Darmstadt und TAG Immobilien AG glauben knapp 60 Prozent der befragten 1000 Mieter, dass in ihrer Nachbarschaft keiner etwas mitbekommen würde, wenn jemand Hilfe in seiner Wohnung bräuchte. „In einer immer älter werdenden Gesellschaft ist soziales Engagement, Nachbarschaftshilfe und ein Miteinander der Generationen wichtig“, sagt Prof. Dirk Schiereck von der TU Darmstadt. Er empfiehlt Mietern und Wohnungsbauunternehmen, sich ein Netzwerk aufzubauen. Denn 81 Prozent der Befragten würden ihre Unterstützung anbieten, wenn ein benachbarter Bewohner Hilfe brauchen sollte. Dabei sind Frauen (84 Prozent) noch hilfsbereiter als Männer (78 Prozent).

Isabella Hafner