Ein Zukunftsministerium gastiert

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Ein Zukunftsministerium gastiert

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„Für alles gibt es ein Amt - nur nicht für Zukunftsträume.“ Juliane Stiegele ist mit ihrem Kollektiv „Utopia Toolbox“ in diesem Sommer nach Ulm gekommen, um den Ulmern und Ulmerinnen genau so ein Amt zu geben. Sie nannten es: Zukunftsministerium. Dazu luden sie einen Container auf dem Münsterplatz ab. Menschen jeden Alters luden sie wiederum damit ein, das, was ihnen an Utopien für eine künftige Welt im Kopf herum schwirrt, hier heraus zu lassen.

Viele lockte der Container zunächst an, weil er schief auf dem Münsterplatz stand. Das Kollektiv hatte ihn nämlich absichtlich angeschnitten. Juliane Stiegele, Künstlerin und Mitinitiatorin: „So konnte man beim Betreten erproben, wie Schiefheit am eigenen Leib wirkt. Viele haben erstmal gesagt: Huch, da wird mir ja ganz übel!“ Was Juliane Spiegele genau daran spannend findet: „Wir tolerieren mehr die Schiefheit unserer Weltlage, dass die ins Rutschen gekommen ist. Bevor wir uns wehren und Gegenmaßnahmen ergreifen.

„Überwältigend“, sei gewesen, wie viele sich vom Werkzeugkasten der Zukunft - der „Utopia-Toolbox“ anziehen lassen haben. In den nur zweieinhalb Wochen im Juli, in denen sie vor dem Münster gastierte. Also dort, wo Jahrhunderte lang Menschen einen Turm in den Himmel bauten.  Juliane Stiegele, die in den vergangenen zehn Jahren mit ihrem Kollektiv die Toolbox schon in verschiedenen Städten abgestellt hat: „Die Leute in Ulm sind wahnsinnig offen und tragen viel Fantasie in sich herum. Die Stadt wirkt auch so progressiv, allein die Architektur. Sie gibt sich nicht mit ihrer Gotik zufrieden. Die Begegnungen mit den Menschen in der Stadt waren total lebendig.“

Da war zum Beispiel die 63-jährige Frau, die als Gebäude-reinigerin am Berliner Flughafen gearbeitet hatte, bevor sie nach Ulm gezogen ist. Die erzählte, ihr hätten bei ihrer Arbeit die Flugzeuge immer so „ausnehmend gut“ gefallen. „Ich musste immer wieder die Flügel ansehen, die Tragflächen, die sich am Ende so wunderbar nach oben biegen. Zuhause habe ich mir dann aus gesammelten Pappen und Papieren, die ich übereinander verleimte, einen Tisch gebaut, genau von der Form dieser Tragflächen, nur um 180° gedreht.“ Die Frau fand, die Schulen sollten viel mehr „das wirkliche Andersdenken fördern, lehren und ermutigen, nicht bestrafen“.

Den elfjährigen Marvin beschäftigten die Tiere im Zoo und im Zirkus. „Das finde ich nicht gut. Wir möchten als Menschen ja auch nicht eingesperrt hinter einem Gitter sitzen und gefüttert werden. Ich will auch den Zirkus verbieten, wo man die Tiere quält, sie peitscht und ihnen nicht genug zu essen gibt, damit sie tun, was der Mensch will. Das Tier will doch auch gut leben. In Zukunft könnte man doch im Zirkus Roboter anziehen wie Tiere und durch brennende Reifen springen lassen. Roboter haben ja kein Herz, denen macht es nichts aus. Auch der Krieg könnte in Zukunft durch Roboter geführt werden. Die kann man ja wieder zusammenflicken, wenn sie beschossen werden. Dann würde kein Mensch im Krieg sterben.“

Eine 53-jährige Touristin mit ihrem 63-jährigen Mann - beide aus Aachen - hatten eine ganz neue  Idee für den Münsterplatz. Denn wenn die beiden unterwegs sind, sehen sie sich „fremde Städte immer mit Argusaugen an: Wie lebendig ist eine Stadt, wieviel soziales Leben gibt es auf den Straßen, an das man sich anschließen kann, möchte man sich in der Fußgängerzone aufhalten oder geht man einfach nur durch, was macht eine Stadt lebenswert“. Die Frau sagte: „Ich würde den Wochen-Markt mehr vom Münsterplatz in die Gassen hineinziehen und dafür auf dem Platz ein Zentrum schaffen, ein Wasserspiel zum Beispiel, an dem sich die Leute  gerne aufhalten und sich treffen.“ Und ihr Mann ergänzte: Auf dem Münsterplatz würde ich jede zweite Platte herausnehmen und eine Tomatenpflanze einsetzen.“

Wenn der elfjährige Christoph eine Schule gründen könnte, müsste sie in der Natur stehen. „Ein paar Bäume müsste man dann zwar abhacken, aber in der Natur hat man bessere Luft. Eigentlich wäre es oben am Berg am besten, die Schule hin zu bauen. Dort wäre nicht so viel Stress und Ablenkung wie in der Stadt, und keine Geräusche von den Autos. In meiner Schule müsste es auch mehr gebildete Lehrer geben. Und in meiner Schule würden die Kinder nicht nach gut und schlecht eingeteilt werden.“ Und der zehnjährige Finn wünscht sich für die Gesellschaft der Zukunft: „Kein Nutella! Und wir sollten weniger unsere Wäsche waschen. Das kann man doch alles länger anziehen.“

Ein 72-jähriger Verwaltungswirt will seine Utopie Wirklichkeit werden lassen. In zehn Jahren. „Ich werde am 30. 6. 2030 sterben, das habe ich so bestimmt. Zu diesem Zeitpunkt werde ich 82 Jahre alt sein. Das ist auch das Alter, in dem die meisten meiner nahen, männlichen Verwandten gestorben sind. Am 19. 5. 2030, meinem 82. Geburtstag, werde ich meine Entscheidung kurz zuvor nochmal überprüfen.  Mich befreit dieser Gedanke, so habe ich nun noch 10 Jahre Ruhe und brauche mir keine Gedanken um meinen Tod zu machen. Ich kann das Leben in vollen Zügen genießen! Ich bin auch in der katholischen Kirche engagiert und wir reflektieren in einer Gruppe viel gemeinsam über dieses Thema. Ich freue mich sehr darauf, das Neue nach meinem Tod kennenzulernen.
Von etwas ganz anderem träumt die 66-jährige Alma: „Ohne Ziel loslaufen und schauen, wie weit ich komme. Und dann von da aus entscheiden, wie es weitergeht. Einfach so nach Gusto! Ich habe noch nie ausprobiert, wie weit ich gehen kann! Das ist ja eigentlich nichts Unrealistisches, ich könnte das jederzeit machen. Sonst geht man ja immer mit einem Ziel los, oder kommt am Abend wieder nach Hause zurück.“

Nach den zweieinhalb Wochen auf dem Münsterplatz zog sich das Kollektiv zurück, um im August ein paar Ideen davon möglichst weit zur Umsetzung zu bringen. Welche, das wurde zum Redaktionsschluss dieser Agzente-Ausgabe noch nicht verraten.

Was sich  die Toolbox-Initiatorin Juliane Stiegele aber für Ulm selbst schon mal wünschte: Dass das Zukunftsministerium eine Dauereinrichtung für Ulmerinnen und Ulmer würde. „Wo man einfach immer hinkommen kann, wenn man eine Idee hat.“ Denn die Grundfrage, die man sich - auch als Stadt - für die Zukunft stellen müsse, ist: „Wie kann man nachhaltig mit Fantasie und Kreativität umgehen? Die brauchen wir dringend, für die Aufgaben, die anstehen in unserer Welt. Sie ist eine unserer größten Ressourcen. Wir müssen unsere Gewohnheiten bewegen.“

Text und Fotos: Isabella Hafner